Collection: Hess/Hassel Family Letters
Author: Emilie Hassel
Description: Letter from Emilie Hassel to her brother, Friedrich Wilhelm Hess, December 4, 1873.
Original text
[page 1 (sheet 1, right-hand side):]
Hamm den 4ten December 1873
Mein lieber Bruder!
Gewiß hattest Du schon längst auf einen Brieflein
aus der Heimath gehofft, und wohl mit
Recht eins erwarten können, was auch sicher
sonst schon abgesandt wäre, aber der Mensch
nimmt sich viel vor, und doch läßt die Ausführung
manches zu wünschen übrig. Wir haben
hier theils eine unruhige, theils aber auch eine
recht sorgenvolle Zeit verlebt, doch bevor ich
Dir dessen mitheile, möchte ich Dir zunächst doch
vor allen Dingen unseren besten Dank aussprechen,
für Deine theilnehmenden, freundlichen
Zeilen, die uns ja über Dein Befinden und
Wohlergehn nur Günstiges melden konnten.
Alles was Dich betrifft und was Dich berührt ist
für uns vom größten Interesse, und es ist uns
jedes mal ein wahrer Festtag wenn aus der
weiten Ferne von Dir ein Brief eintrifft. Auch
für die gleich gütige und nie ermüdende Uebersendung
der Zeitungen, tausend Dank, wir verfolgen
in denselben Alles mit der gespanntesten
Aufmerksamkeit, Deine Geistes - Produkte
sind uns selbstredend die wichtigsten und ver-
lockendsten, und ist es im ersten Moment stets
unser erstes Durchfliegen ob nur nichts unter Deinem
Namen erscheihne können, bis nachher mit gehöriger
Muße Alles gründlich gelesen und studiert wird.
Schon vor einigen Tagen erhielten wir die Zeitung
vom 11 ten November mit der Fortsetzung: "Der rothe
Magistrals-Rath" - , und noch heute Abend will ich
Mutter wieder vorlesen, wozu wir uns recht freuen;
wir hätten es sofort gelesen, aber wir hatten ein
Buch angefangen, welches wir bald wieder abgeben
mußten, und Alles auf einmal geht ja
natürlich nicht. Die langen Abende eignen sich
recht zum gemüthlichen arbeiten und lesen, und
so hat auch der Winter sein Gutes der uns noch
mehr wie wohl sonst eine Zeit an die Stube
fesselt. -
In den ersten Tagen des October kam
Bertha zu uns zum Besuch, was uns eine rechte
Herzens Freude war, sie war liebenswürdig wie
immer und in unsrer einfachen kleinen Häuslichkeit
mit uns vergnügt und zufrieden. Leider
blieb sie nur 14 Tage, für uns eine leider zu
kurze und knapp gemessene Zeit, doch kam
Otto sie sich wiederzuholen, und da konnten
wir dann nicht länger zureden, da Bertha wirklich
in demr großen, unruhigen Hauswesen schlecht ent-
behrt werden kann, und wir mußten schon dank
bar sein, daß sie so lange hier bei uns geweilt
hatte. Bertha ist leider kränklich, namentlich
hat sie fabelhaft
auszuhalten, sie muß dann fest liegen, und
kann es dann noch oft kaum ertragen; in
so hohem Grade hat es wohl selten Jemand.
Sie ist aber sehr geduldig, und jammert nur
bloß, daß sie dann nichts leisten und thun
kann. Mutter war in all der Zeit ziemlich
wohl und wir benutzten die schönen Herbsttage
noch recht, zu hübschen Promenaden in
die Umgebung, da hier wirklich auch selbst
in der nächsten Nähe Kaffeehäuser sind, die
fleißig besucht werden. Aber bald nachher
wurde Mutter recht ernstlich krank, wir
ließen den Arzt rufen, und der erklärte
M. habe ein gastrisches Fieber, und bedürfe
der besten und stärkendsten Pflege und
Schonung. Dann ging es auch allmälig ganz
langsam besser, bis vor ungefähr zehn Tagen
ein sehr heftiger Schwindel eintrat, der mehrere
Stunden dauerte, Mutter sich gar nicht bewegen
konnte, und ihr der kalte Angstschweiß
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immer von der Stirn lief. Ach es war ein entsetzlicher
Zustand, ich habe mit ganz schrecklich geängstigt
und nur die größten Sorgen um das für uns
alle so theuere Leben gemacht. Ich schickte
natürlich sofort wieder zum Doctor, der verordnete
auch sogleich, kam nach einigen Stunden
wieder und da wurde es dann ein kleines wenig
besser, wir konnten sie in Kissen etwas aufrichten,
und so scheint denn, Gott sei Lob und Dank die
augenblickliche Gefahr beseitigt, obgleich die Schwäche
fabelhaft ist, die Kräfte noch gar nicht zunehmen
wollen, was bei der besten, kräftigsten
Pflege kaum zu glauben ist. Fritz sorgt nach
Möglichkeit für uns, die Schwestern nicht minder,
von Hildesheim kommt sehr häufig ein
Kistchen mit Erfrischungen aller Art, kurz es
fehlt in dieser Hinsicht hier an Nichts, wenn nur
das vorgerückte Alter und die entsetzliche
Hinfälligkeit nicht wären. Ach es ist ein so tief
betrübender Anblick, ein so theures Leben so
langsam dahin schwinden zu sehen, ich habe
oft meine ganze moralische Kraft nöthig, um es
mir nicht merken zu lassen, wie ich darüber
leide; ich soll und muß ja stets heiter scheinen,
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was mir auch größtentheils gelingt, Mutter
ist ja selbst so muthig und ergeben in
Gottes Willen, und mir und uns Allen auch
in dieser Hinsicht ein leuchtendes Vorbild! -
Wir wollen den Muth nicht verlieren,
und den allgütigen Gott um Kraft bitten,
möchte er unser Flehen erhören, und zur
vollständigen Genesung seinen Segen geben.
Fritz wollte herüber kommen, ich habe es aber
vorläufig noch abgelehnt, es würde M. jetzt
auch zu viel aufregen, später hat sie hoffentlich
mehr davon. Nach gestern hatten wir
von Else einen Brief, es geht ihnen ziemlich
gut, die kleine Magdalena sei Papas Vorzug,
sie kennt ihn aber auch schon am Tritt, und
jauchzte ihm förmlich entgegen. Fritzchen
lernt schon und hat Privatstunden, der
Dicke ist noch Spielkind. Die Kaiserin residierte
wieder einige Wochen in Koblenz, da aber
unser Hof Trauer hat, wegen des Ablebens des
Königs von Sachsen, so fanden keine soiréen
statt, sondern nur Kaffes. Fritz und Else waren
auch befohlen, und zwar um 2 Uhr Nachmittags,
eine komische Stunde, Toilette vorgeschrieben,
hohes Kleid und Hut usw. - Zwei Stunden
dauerte der Zauber, dann zog sich Majestät in
die Gemächer zurück und dies war auch das
Zeichen zum Aufbruch für die Gäste. - Ich
bin froh, daß ich solche Feste nicht mitzumachen
brauche. - Von Deinen alten Freunden kann ich
Dir auch mancherlei mittheilen. Wilhelm Lategahn
ist Kreisgerichtsrath in Mühlheim a/Rh. eine
allgemein geachtete und beliebte Persönlichkeit,
verheirathet ist er nicht, zum großen Leidwesen seiner Mutter, die hier in Hamm noch lebt, und
zwar in den allerprächtigsten Verhältnissen.
Nach dem Tod des Vaters hat sich das Vermögen
viel größer herausgestellt, als es wohl Jemand
gedacht hat, sie machen aber einen schönen
Gebrauch von ihrem Gelde und thun viel
Gutes, auch zum Besten gemeinnütziger Anstalten-
Keller war Bürgermeister in Duisburg,
ist aber dort fast einstimmig zum
Director
gewählt, mit einem hohen Gehalt, da er
sehr das Vertrauen der dortigen Bewohner
sich erworben hatte; er ist verheirathet und
hat mehrere Kinder - [?]Renase[/?] ebenfalls
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Beamter, und zwar Bergwerks - Director
bis vor kurzem in Dortmund, jetzt aber
in Osnabrück, es soll ihm gut gehen, die
Frau kenne ich nicht, habe ihn auch
überhaupt in langen Jahren nicht gesehen. -
Das schöne Weihnachtsfest naht wieder heran,
mein lieber Wilhelm, so gern hätte ich Dir
eine kleine Handarbeit gesandt, aber durch
Mutters Krankheit bin ich in diesem Jahr
zu nichts gekommen. Ich weiß Du bist
deshalb nicht böse, sondern es ist Dir sehr
recht, wenn ich meine Zeit ausschließlich
zu Mutters Pflege und Erheiterung anwende.
Nun wollten wir Dir so gern
eine hübsche Photographie "von Hamm"
schicken, ich sprach deßhalb mit N. Kneer
dem besten hiesigen Photographen. Er
versprach es mir auch ganz fest, mir eine
recht gute zu besorgen, hat aber schlecht
Wort gehalten, bis jetzt habe ich noch
immer vergebens angefragt. So bald
wir aber eine erhalten, sende ich sie Dir,
vielleicht macht es Dir Freude die
kleine Unterstadt einmal wieder im
Bilde zu erschauen. Möchtest Du ein recht
frohes Fest feiern [fefiern], und dabei Deiner
fernen Angehörigen in alter Liebe und
Treue gedenken. Die alte Mama sendet
Dir ihren ganz besonderen Gruß, sie spricht
oft und viel von Dir, und gedenkt Deiner
bis zum letzten Athemzuge. Und nun
Gott mit Dir, mein lieber Wilhelm,
laß recht bald von Dir hören, es erheitert
und erfreut uns ungemein.
Nochmals ein treues Gott befohlen
von Deiner
alten Emmy
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