Migrant Connections [DE]

Interview mit einer Schreibgruppe aus dem Saarland

Homburg and Saarbrücken, Saarland, 21. Juni 2021


Homburg und Saarbrücken, Saarland, 22 Juni, 2021 •


Das Projekt "German Heritage in Letters" ist auf die Mithilfe von Freiwilligen angewiesen, insbesondere von Familienhistoriker:innen, die uns ihre Materialien zur Verfügung stellen, und von Menschen, die unsere Online-Schnittstelle nutzen, um Briefe in maschinenlesbaren Text zu transkribieren. Einige unserer Transkriptor:innen arbeiten alleine, aber heute möchten wir ein Interview mit einer Gruppe von vier bemerkenswerten Freiwilligen im Saarland teilen, die gemeinsam die Briefesammlung von Charlotte Fischer von Höfeln vollständig transkribiert haben. Charlotte Fischer, die in Nürnberg geboren wurde, wanderte um 1851 nach Illinois aus und heiratete dort Andreas von Höfeln, einen Einwanderer aus Norden (Ostfriesland). Ihre Familienpapiere wurden schließlich der Newberry Library in Chicago geschenkt. Die saarländische Gruppe begann im November 2020 mit der Bearbeitung der umfangreichen Sammlung, die fünfzig Briefe umfasst, und beendete ihre Arbeit im März 2021. Dank ihrer Recherchen kennen wir nun die Namen und Identitäten von Charlottes Korrespondenten, darunter ihre Schwester Babette Tritschler, ihre Cousine Auguste Finckh und andere Verwandte und Freunde in Deutschland, die ihr aus Kirchheim unter Teck (Württemberg) und anderen Gemeinden in der Nähe schrieben. Wir haben unseren Freiwilligen eine Reihe von Fragen darüber gestellt, wie sie die Kurrentschrift erlernt haben, sowie über ihren Arbeitsprozess und die Erkenntnisse, die sie beim Lesen der Höfeln-Briefe gewonnen haben. Bevor wir ihre Antworten teilen, stellen wir sie im Folgenden einzeln vor.
Interview und Übersetzung von Yella Nicklaus (in English).
Regina Kunz lebt in Homburg (Saarland) und arbeitete bis zu ihrer Pensionierung als Programmiererin. Als sie im Nachlass ihrer Eltern alte Briefe in Kurrentschrift fand, begann sie, Kurrentschrift zu lernen und sich allgemein für die Transkription historischer Briefe zu interessieren. Bruno von Lutz, der Leiter des Deutsch-Amerikanischen Instituts des Saarlandes, vermittelte ihr den Kontakt zu Maria Sturm, einer der Organisatorinnen der "Transcription Tuesdays" der Horner Library. Seit Herbst 2020 ist sie regelmäßige Teilnehmerin der Transkriptionsveranstaltung.

Eva Tietjen lebt in Saarbrücken, wo sie vor ihrer Pensionierung als Leiterin der Kassenabteilung einer Justizbehörde gearbeitet hat. Weil sowohl ihre Großeltern als auch ihr Vater in Kurrentschrift geschrieben haben, erlernte sie das Lesen der Schrift schon in jungen Jahren - Im Zusammenhang mit ihrer eigenen Ahnenforschung wurde diese Fähigkeit nochmals relevant. Vor sieben Jahren begann sie, sich für die Transkription von historischen Briefen zu interessieren. Seit Januar 2021 nimmt sie zusammen mit Regina regelmäßig am „Transcription Tuesday“ der Horner Library teil.
Hans-Hermann Marx ist ebenfalls in Saarbrücken ansässig. Bevor er in den Ruhestand ging, arbeitete er als kaufmännischer Angestellter in der Buchhaltung, Controlling und Entgeltabrechnung. Die Motivation, Kurrentschrift zu lernen, entstand, als er seine eigene Familiengeschichte erforschte und auf Dokumente stieß, die er nicht lesen konnte. Das Erlernen der Kurrentschrift vor zehn Jahren war für ihn der Beginn einer vertieften Beschäftigung mit Schrift- und Zeitgeschichte.

Monika Gelf  lebt ebenfalls in Saarbrücken. Vor ihrer Pensionierung war sie als kaufmännische Angestellte in der Buchhaltung eines Automobilunternehmens tätig. Bei der Erforschung ihrer Familiengeschichte stieß sie auf Dokumente, die in Kurrentschrift verfasst waren, was sie dazu veranlasste, diese lesen zu lernen. Vor acht Jahren begann sie, sich für die Transkription historischer Briefe zu interessieren.
1. Wie ist die Schreibgruppe entstanden?

Wir haben alle an einem Kurs zum Erlernen der Kurrentschrift teilgenommen - daraus haben sich Interessengruppen und Freundschaften gebildet, die schließlich zur Gründung unserer Schreibgruppe geführt haben.

2. Wie organisieren Sie den Transkriptionsprozess? Nutzen Sie die Online-Schnittstelle oder arbeiten Sie separat?

Jeder Teilnehmer unserer Gruppe transkribiert selbstständig einen Brief und gibt den Text in ein Microsoft Word-Dokument ein. Danach folgt eine Runde der Bearbeitung und Korrekturen. Bis ein Brief wieder in die Online-Transkriptionsoberfläche übertragen wird, haben wir in der Regel alle an dem Dokument gearbeitet. Wenn ein Brief eine besondere Herausforderung darstellt, besprechen wir ihn als Gruppe - im Moment über Skype; vor der Pandemie haben wir uns persönlich getroffen.

3. Haben Sie beim Transkribieren und Lesen der Höfeln-Briefe etwas erfahren, das Sie besonders interessant fanden?

Es war weniger ein bestimmter Brief, sondern eher ein Gesamteindruck, der sich während des Transkriptionsprozesses entwickelt hat - insbesondere über Babette Tritschler, Charlottes elf Jahre ältere Schwester. Bemerkenswert erscheint der Stil ihrer Briefe: Sie hat eine sehr originelle, eigene Ortographie und schrieb mit nur wenigen Satzzeichen, was es oft schwer machte, die Struktur ihrer Briefe zu erfassen. Sie schrieb selbst oft von Problemen mit ihren Augen, möglicherweise litt sie an einem Katarakt. Dadurch ist ihre Schrift manchmal nur schwer leserlich.

4. Warum ist es lohnenswert, sich heute mit diesen Briefen aus dem 19. Jahrhundert zu beschäftigen?

Die Briefe vermitteln ein interessantes Bild der damaligen Zeit, 1852 bis 1890, mehr über Deutschland als Amerika.
Babette Tritschler ist sehr jung Witwe und alleinerziehende Mutter einer Tochter geworden. Vermutlich verbrachte sie ihr ganzes Leben in Geldnot, dennoch konnte sie eine gewisse Autonomie und Selbstständigkeit entwickeln. In ihrem starken Glauben fand sie viel Kraft zur Hinnahme von Schicksalsschlägen, was uns aus unserer heutigen Sicht eher als naiv und wenig reflektiert erscheint. Vieles aus den Briefen scheint ein Abbild dieser Zeit zu sein, auch im Hinblick auf die politischen, technischen-industriellen und sozialen Entwicklungen, nicht zuletzt dem Stand der Medizin. So schreibt Babette Trischler über die ersten Eisenbahnverbindungen, die fortschreitende Industrialisierung, aber auch die Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein der Menschen gegenüber Krankheiten. Die Briefe zeigen, dass die Menschen die Sehnsucht nach den ausgewanderten Verwandten auch nach Jahrzehnten nie verloren hatten.

Photograph of the volunteer group working together (taken before the coronavirus pandemic)
Die Schreibgruppe bei der gemeinsamen Arbeit vor der Coronapandemie. Derzeit treffen sich die Mitglieder über Skype.

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