Sammlung: Hess/Hassel Family Letters

Verfasser: Emilie Hassel

Empfänger: Friedrich Wilhelm Hess

Bezeichnung: Brief von Emilie Hassel an ihren Bruder, Friedrich Wilhelm Hess, 8. Juni 1873.

Emilie Hassel an Friedrich Wilhelm Hess, 8. Juni 1873

Original text

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Hildesheim den 8ten Juni 1873.

Mein lieber Wilhelm!

Gewiß und mit Recht wirst Du Dich gewundert
haben, daß Du noch immer kein Wort des
Dankes von uns erhalten hast, doch mußt Du
es uns nicht ganz zurechnen, denn die letzten
Wochen sind im Verhältniß zu unserm sonstigen
Stillleben, viel unruhiger und bewegter
vergangen. Seit beinahe 14 Tagen sind wir bereits
hier in Hildesheim und da habe ich
auch noch kaum zum Schreiben kommen
können, doch heute möchte ich nun gar zu
gern, diesen ruhigen Sontag-Nachmittag zum
gemüthlichen Plaudern mit Dir benutzen, und
Dir vor allen Dingen so recht aufrichtig danken
für Deine beiden, lieben prächtigen Briefe [insertion:]für[/insertion] die
vielen interressanten Zeitungen, und für
das reizende Singspiel zur Orpheus-Feier1,
welches voller Satzen und Laune ist. – Bis

[left margin]
schicke nur nach Hamm hin, bis dahin sind wir wieder daheim.

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jetzt ist noch stets alles richtig an und über
gekommen, und erhielten wir noch heute
Morgen, die beiden letzten Zeitungen vom
18ten und 20ten Mai, in deren Spalten wir
mit großem Jubel die Anerkennung und
Auszeichnung entdeckten, die Dir und ganz mit
Recht für das entzückende Gedicht: Gruß an
die gefiederten, deutschen Sänger, zu Theil geworden
ist. Dem Verdienst seine Krone, dies
Wort kann man auch hier anwenden, denn Du
hast Dich wahrlich nach den verschiedenartigsten
Richtungen hin, um die dortige Presse
verdient gemacht, und daher gebührt Dir auch
Lohn und Lob für Deine Bestrebungen.
Der Dir zu Theil gewordene Stock muß ja
mit goldenem Knopfe muß ja ein
Meisterstück vollendeter Goldarbeit sein, möchte er
Dir stets Stütze und Stab bleiben und nach
allen Seiten hin „Gut Heil“ bedeuten.
Deine poetische Begeisterung hat mich und

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uns Alle hier so außerordentlich erfreut
und angenehm angeregt, daß ich Dir in
aller Namen unsern wärmsten Dank dafür
ausspreche, Du trägst dadurch ganz
unendlich zu unserer Unterhaltung bei und
zwar auf die interressanteste Weise, Mutter
studiert förmlich die Zeitungen, und sähest Du
die alte Frau dabei sitzen, und sich über jedes
von Dir geschriebene Wort sich freuen, Deine
Freude würde dann noch die größte sein.
Leider ist Mutter in den letzten Tagen gar
nicht recht frisch gewesen, und muß sich sehr
schonen, die Köpfe wollen immer anders
wie wir, auch Bertha leidet unendlich
an Kopfschmerzen, was bei ihrer großen
und sehr unruhigen Haushaltung oft mehr
wie störend ist. Pfingsten waren die Kadetten
hier zum Besuch, Victor ist schon ebenso
groß wie sein Papa, er hat sich recht vortheilhaft
verändert, ist aufmerksam, gefällig, gewandt,

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liebenswürdig geworden, ein tüchtiger, praktischer
Ofizier wird er wohl werden, wenn er nur die
Examen nicht wären, und er nicht viel zu studieren
bräuchte, das ist seine Passion nicht. Rudolf
hat eine stillere Natur, wird aber auch jetzt etwas
größer und kräftiger. Westarp ist gestern nach
Liebenstein in Thüringen abgereist, um dort
eine Kalt-Wasser-Kur zu gebrauchen, er hat eine
Ausspannung mehr wie nöthig, muß hier fabelhaft
arbeiten, seine amtliche Thätigkeit nimmt ihn
fast ganz in Anspruch, möchte er nun gestärkt heim
kehren, und noch recht lange zum Segen seiner
Familie wirken können. Hoffentlich, mein
theurer Bruder, erreichen Dich diese Zeilen
recht bald und kommen noch zum 27ten
Juni in Deine Hände, wir alle hier vereint,
wünschen Dir zu Deinem Geburtstage so recht
von Herzen Glück und Gottes reichsten Segen.
Wir werden an diesem Tage wie ja stets, int
treuer Liebe Dein gedenken, und auf das
Wohl des fernen Onkels recht kräftig anstoßen,

[page 5:]

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und die muntern Neffen werden es sich nicht
nehmen lassen ein dreifach donnerndes
Hoch „erschallen“ zu lassen. – Sollte ich heute
etwas vergessen, so mußt Du es dem Umstande
beimessen, daß ich dummer Weise meine
Schreibmappe vergessen habe, und sie mir auch
nicht kann nachschicken lassen, da ich meinen
Schreibtisch doch nicht Fremden oder auch selbst
Bekannten nicht gern Preis geben möchte.
Ich hatte mir [insertion:]es[/insertion] so gut überlegt und wollte von
hier aus, manche Briefe beantworten und
Verschiedenes abmachen und nun nichts von
alle dem. Aber die letzten Tage in Hamm
waren so unruhig und ich so in Anspruch
genommen, daß ich dadurch die Mappe vergaß.
Frau Thormann, Fritzens Schwiegermutter,
besuchte uns auch noch, sie kam
von Rendsburg und wollte nach Koblenz
zu ihren Kindern, die sich sehr auf ihr
Kommen freuten. Hoffentlich wird es Fritz möglich
ein Bad zu besuchen, es thut ihm sehr

[page 6:]

Noth, denn die Strapatzen des Feldzuges
machen sich doch noch recht fühlbar. Wir
erwarten täglich nähere Nachrichten von
dort, sind recht gespannt, wozu er sich entschließen
wird. Was Paula für ihre Gesundheit
thun wird ist uns auch noch nicht genau
bekannt, in meinen nächsten Zeilen kann
ich es Dir näher mittheilen. Habe nochmals
vielen, vielen Dank für alle Deine übersandten
Geistes-Producte, ich kann Dir nur
wiederholen, daß Du uns stets die größte
Freude dadurch bereitest. Groß und klein,
Großmann, Töchter und Enkel senden
Dir so recht warme, treue Grüße, und
wiederholen wir alle gemeinschaftlich:
„Gott mit Dir, jetzt und immerdar.“
Hoffentlich übersendest Du recht bald
gute Nachrichten
Deiner
alten Emmy

 

  • 1. possible reference to Philadelphia.

 

 


 

Notes
  1. possible reference to Philadelphia.