Sammlung: Hess/Hassel Family Letters

Verfasser: Emilie Hassel

Empfänger: Friedrich Wilhelm Hess

Bezeichnung: Brief von Emilie Hassel an ihren Bruder, Friedrich Wilhelm Hess, 23. April 1874.

Emilie Hassel an Friedrich Wilhelm Hess, 23. April 1874

Original text

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Hamm den 23 ten April 1874.

Mein lieber Wilhelm!

Dein so herzlicher, liebevoller Brief, hätte wahrlich
wohl eher eine Antwort verdient, die
Dir unsere große Freude über denselben und
unsern innigen Dank ausgesprochen hätte. Aber
wir haben im Ganzen keine gute Zeit durchzumachen
gehabt, da Mutters Befinden leider
fortwährend unendlich viel zu wünschen übrig
ließ, und uns mit steter Sorge erfüllte. Ihre
Pflege und Wartung hat mich oft der Art in
Anspruch genommen, daß ich Abends dann
selbst todt müde war und nicht mehr zum Schreiben
kommen konnte; auch wollte ich gern
erst abwarten, ob es sich nicht wieder zum
Bessern neigte, und da scheint es dann doch,
daß seit einigen Tagen die Kräfte wieder im
Zunehmen begriffen sind, und die herrliche
Frühlingsluft auch zur Hebung und Förderung
der gesunkenen Lebensgeister beitragen wird.
Die Füße waren auch geschwollen und da mußte
Mutter viel liegen, gehen durfte sie noch, aber
hängen lassen, gar nicht. Kurz wir haben keine

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leichte, sondern eine recht sorgenvolle Zeit
durchlebt, da sich auch noch verschiedene Mängel
des Alters recht fühlbar machten. In der Art
bin ich ganz mit Deinem wohlgemeinten Rath
einverstanden, daß Luftveränderung gewiß wohlthuend
sein und wirken würde, aber in anderer
Art ist es auch eine Gewissenssache, mit einer
so alten Frau noch reisen zu wollen, Pläne
machen wir deßhalb noch nicht, ist es gut für
uns, dann wird es schon dazu kommen. Fritz
bittet in jedem Briefe darum, und wir haben
es gut bei ihm, aber die Unruhe, die selbstredend
drei lebhafte Kinder veranlassen, ist auch oft etwas
viel, namentlich für den, der an ein so
gleichbleibendes Stillleben gewöhnt ist. Doch
kommt Zeit, kommt Rath, zunächst will ich
Dir aber, mein guter Bruder, recht herzlich Dank
sagen, für die Uebersendung der Zeitungen,
und das Kladderadatsch. Du machst uns jedes
mal aufs Neue eine recht große Freude dadurch,
und kann ich Dich versichern, daß unsere Lachmuskeln
nicht wenig in Bewegung gesetzt
werden. Gewiß wird das Blatt immer größere
Verbreitung finden, und sollte es mich ganz

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ungemein für Dich freuen, wenn Du dadurch
eine unabhängigere Stellung von der täglichen
Presse erzielen würdest, um Dich mehr auf
die Belletristik werfen zu können. Dann
brauchtest auch Du Dich nicht mehr so anhaltend
zu plagen, hättest mehr Muße für Dich, o wie
gerne gönnte ich Dir dies, denn es ist wahrlich
keine Kleinigkeit, so Tag für Tag an den Schreibtisch
gefesselt zu sein, um mit scharfem Geist
und gewandter Feder allen Ansprüchen und
Anforderungen zu genügen. Heute enthielt das
Wochenblatt von hier, einen Artikel von
Cincinnati über die lächerliche Betseuche
fanatischer Weiber, die mit brünstigen Gebeten
und ohrenzerreißenden Gesängen die
Wirthshäuser belagern um die Männer zu
vertreibenund die Wirthe zu zwingen die
Schenklokale zu schließen u. s. w. -

Doch da theile ich Dir nur etwas Altes, nichts
Neues mit, sende Dir lieber des Spaßes wegen
einliegendes Zettelchen, was uns amüsierte
und Du vielleicht mal gebrauchen kannst,
wenn Du es zufällig noch nicht kennen
solltest. Gerne würde ich Deinem Wunsch nachkommen,

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und einen oder den andern Deiner alten Schulkameraden
veranlassen Dir mal ein Brieflein
zu senden, vielleicht kann ich einmal W. Lategahn
sprechen, dessen Mutter hier noch wohnt,
er soll Ostern hier gewesen sein, ich erfuhr es
aber nachher; ich behalte es aber im Gedächtniß,
es macht sich gewiß noch so. - In Hildesheim
bei Westarps war in der letzten Zeit viel
Krankheit, Otto der 4 te Sohn, hatte sehr heftig
das Scharlachfieber und war recht gefährlich
krank, er wurde von den andern Kindern
abgesperrt, ist aber noch nicht seiner Haft entlassen,
sehnt sich sehr wieder heraus zu dürfen.
Bertha, seine treue Mama und Pflegerin, hatte
sich sehr überanstrengt, bekam auch eine
arge Hals-Entzündung und mußte auch liegen,
sie ist auch noch recht angegriffen und hatten ih
wir von ihr selbst, erst einmal per Karte einige
Zeilen. Victor und Rudolf sind auch jetzt Beide
zu Haus, erwarten ihre Bestimmung um in
die betreffenden Regimenter einzutreten.
Victor hat das Examen als [?]ifas.[/?] Portepee-Fähnrich
bestanden, und das 7 te Regiment, welches in

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Liegnitz Garnison hat, gewählt, ob er aber
dort hin geschickt wird ist noch fraglich, sie dürfen
wohl im Kadetten Korps vorschlagen, werden
aber sehr häufig doch in andere Regimenter, wo
es vielleicht fehlt, eingestellt. Rudolf ist Degen-Fähnrich
und möchte gern in das 31 te Reg.
Altona bei Hamburg eintreten, ob es ihm
glückt, steht ebenfalls dahin. Die Ausrüstung
von 2 Söhnen macht Westarps viele Kosten
und Bertha manche Mühe. Wir haben auch
Socken gestrickt und geholfen, gestern schickte
ich die letzte Arbeit fort. Louis ist nach Quarta
versetzt, ihm wird das Lernen leicht. Soldat
aber kann er nicht werden, da sein rechter Oberarm
steif ist, und es noch ein besonderes Glück
ist, daß er mit der rechten Hand überhaupt schreiben
kann. Es ist heut zu Tage keine Kleinigkeit
fünf Söhne zu erziehen, wo kein Vermögen ist,
und Alles auf zwei Augen beruht, Ansprüche
nach allen Richtungen gemacht werden und
den Verhältnissen Rechnungen zu tragen.
Bertha hat keine leichte Aufgabe zu leisten,
so treu ihr auch Otto zur Seite steht, es ist
aber oft zuviel für ihren schwachen Körper, sie

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denkt nie an sich, stets an andere, Egoismus
kennt sie entfernt nicht, ich sage es ihr immer,
schone Dich mehr, aber ihre große Herzens Güte
läßt es nicht dazu kommen. - Klein Fritzchen
lernt auch schon fleißig, kann schon Sätze
lesen, hat bis jetzt noch Privat-Unterricht,
soll den Sommer über sich noch tüchtig im
Freien tummeln, um noch kräftiger zu
werden. Theodor ist noch Spielkind, und die
kleine Magdalena würde jeden Tag rosiger.
Paula und Gretha befinden sich wohl, werden
wohl Beide wieder Brunnen trinken. Sonst
führen sie ein gemüthlich behagliches Leben,
haben keine Sorgen, sind entschieden am Besten
von uns allen gestellt. - Doch nun, mein
alter, treuer Bruder, bitte ich Dich nochmals, trage
mir mein langes Schweigen nicht nach, und vergilt
nicht Gleiches mit Gleichem, ich will mich bessern,
und das Versäumte nach zu holen suchen. Es vergeht
kein Tag, an dem wir nicht Deiner in Liebe
gedenken, das ist aufrichtig war, sonst schriebe
ich es nicht. Die alte Mama sendet Dir tausend,
tausend Grüße, selbst schreiben ist kaum noch
möglich. Gott mit Dir und uns Allen! -

Heute wie immer Deine

treue Schwester Emilie