Sammlung: Hess/Hassel Family Letters

Verfasser: Emilie Hassel

Empfänger: Friedrich Wilhelm Hess

Bezeichnung: Brief von Emilie Hassel an ihren Bruder, Friedrich Wilhelm Hess, 8. März 1876.

Emilie Hassel an Friedrich Wilhelm Hess, 8. März 1876

Original text

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Gumbinnen den 8ten März 1876.

Mein guter Bruder!

Wie danke ich Dir so recht treu und warm Deine theilnehmenden Zeilen, die uns tief bewegten, mitfühlenden Herzen kamen,
und darum auch innigen Anklang in meinem trauernden Gemüth hervorriefen. Schon oft habe ich mir Vorwürfe gemacht, daß ich Dir dies nicht früher ausgesprochen, nicht früher Dir Nachricht gegeben,aber nichts greift mich jetzt mehr an, wie Briefe schreiben, es erregt mich ganz unendlich und all meine Weh und all mein Leid [insertion:] über[/insertion] denr Heimgang
unseres theueren Mütterchens fällt mir wieder mit erneuter Stärke so schwer auf die Seele. Aber so liebevoller Zuspruch, mein
alter Bruder, wie Dein Brieflein ihn mir ausspricht, das thut wohl, ist lindernder Balsam, auf die noch langsam blutende Wunde, aber glaube deshalb nicht, daß ich

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kleinmüthig oder verzagt bin, nein, ich schaue vertrauensvoll in die Zukunft, der Gott, der die Geschicke der Menschen mit weiser Hand lenkt und leitet, der verläßt auch mich nicht, deß bin ich froh und gewiß. Und welch leuchten= dens Vorbild war uns auch in diesem Punkt, unsere nun verklärte Mutter, durch mancherlei Sorgen und Prüfungen führte auch sie ihr Lebensweg, aber ihr Gottvertrauen hat nie gewankt, sie hat einen guten Kampf ge= kämpft, und ihr letzter Wunsch, ihr möge ein recht sanftes, seliges Ende zu Theil wer= den, ist ihr erfüllt, sie legte ihr müdes Haupt friedlich und freudig hin um hie= nieden nicht wieder zu erwachen. Möge die Erde ihr leicht sein, und ihr Geist und ihr Segen stets bei allen ihren Kindern sein und bleiben! – Wie freute es mich und uns alle hier, zu hören, daß es Dir noch gut gehe, Du trotz unendlicher Arbeit, doch noch frisch und gesund seist. Sind die Anstrengungen des täglichen Berufes nicht geradezu unserm

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Körper schädlich oder nachtheilig, dann liegt ja im Wirken und Schaffen die größte innere Be= friedigung, ist unser Leben köstlich gewesen, dann ist es Mühe und Arbeit gewesen. Es ist sehr liebenswürdig von Dir, daß Du noch immer die Zeitungen sendest, das letzte Sontagsblatt, welches ich hier erhielt war vom 13ten Februar, es interessiert mich sehr und danke ich Dir bestens Deine Güte, ich hoffte schon immer auch mal wie= der ein Geistes-Product aus deiner Feder zu finden, doch hat Deine Zeit Dich durch andere Beschäftigungen wohl stets so in Anspruch genommen, daß es Dir nicht möglich war. Zu der großartigen Welt-Ausstellung in Philadelphia werden auch von hier aus in umfassender Weise Sachen und Gegenstände der verschiedensten Arten über den Ocean gesandt, darüber werden seiner Zeit, alle Zeitungen noch genugsam zu berichten haben, die Vorbereitungen sind ja wohl längst im Gange. – Auch die

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[roman:]“Cincinnati Frei Presse“[/roman] wird nicht verfehlen Berichte zu erstatten. – Doch nun, lieber Wilhelm, möchte ich Dir noch gern von uns erzählen, Du hörst es ja gern, das weiß ich. Noch immer bin ich hier in [roman:]Gumbinnen[/roman] im gastfreien Hause der guten Geschwister, wo ich stets mit gleicher Güte und Liebe behandelt werde. Augenblicklich habe ich nur zu bedau= ern, daß ich so wenig leistungsfähig bin, denn schon seit längerer Zeit, leide ich viel an Kopfweh, fühle mich sehr angegriffen und matt, jetzt erst scheint die totale Ab= spannung nach der langen, schweren Zeit nach= zukommen, so viel und gern ich mich auch dagegen sträuben möchte, bin ich doch sehr schlaff und muß Bertha viel Nachsicht und Geduld mit mir haben. Es ist hier im Ganzen eine unruhige Haushaltung, Bertha hat genug zu denken und zu überlegen, die ganze Karre immer im gehörigen Gleise zu erhalten, nicht allein der innere Betrieb, nein

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2) auch die äußere Welt will befriedigt sein, wie es eben die Stellung von Otto mit sich bringt. Otto selbst hat auch viel Arbeit, es ist hier eine der größten Regierungen, außer ihm noch 33 Mitglieder und 96 Subaltere Beamte. Dabei muß er dienstlich viel reisen, war vor einiger Zeit sogar in Rußland, da er mit dem dortigen Gouverneur zu verhan= deln hatte, es war gräßliches Wetter, die Fahrt zu Schlitten über Schnee und Eisflächen, einmal sogar eingebrochen, was sehr schlimm hätte ablaufen können, es war ein Glück, daß er ganzbeinig wieder zurückkehrte. Jetzt ist er wieder dienstlich fort, nach Königsberg zum Ober-Präsidenten und nach [roman:]Berlin[/roman] zum Mini= ster, er führt ein bewegtes Leben, es macht ihm so leicht Keiner nach. Trotz des sehr stren= gen, kalten Winters haben wir es hier doch in den Räumen immer sehr behaglich gehabt. Die ganze Einrichtung ist sehr wohn= lich und angenehm, Berthas waltende Hand hat Alles sehr geschmackvoll hergerichtet, sie

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weiß mit Umsicht und Ruhe ihre Würde als Dame des Hauses und Mutter der Kinder sehr zu vereinen. Von den beiden Lieutenants sind ja bis jetzt noch immer gute Nachrichten einge= laufen, [roman:]Victor[/roman] vom [roman:]“Meut“[/roman] Kronprinz in Königsberg war schon hier, und Rudolf vom 31ten Reg. in [roman:]Altona[/roman] wird im Laufe des Som= mers auf längern Urlaub erwartet. [roman:]Louis[/roman] ist wohlbestellter Tertianer, Ottochen Sex= taner und klein [roman:] Wölfchen[/roman] seit einigen Wochen [roman:]primus[/roman] in Septime b, eine Würde auf die er nicht wenig stolz ist. Der kleine Schelm ist geistig außerordentlich günstig ver= anlagt, lernt und faßt sehr leicht, gibt die treffensten Antworten, aber körperlich ist er sehr zart und von einer solchen Lebendigkeit, wie es mir selten vorgekommen ist, stille sitzen ist ihm kaum möglich, gut daß die ersten 7 Jahre überstanden, dem Anschein nach, die magern für ihn, nun werden wohl die fetten kommen.‒ Aus Ehrenbreitstein hatte ich einen sehr ausführlichen Brief von [roman:]Else[/roman], Fritz hat nur

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zu übermäßig zu thun, es ist zu viel, trotz seiner großen Arbeitskraft, kaum zu bewältigen. Ich wünschte, er würde bald in den practhischen Dienst zurück versetzt, bekäme ein Bataillon, das wäre seiner Gesundheit viel zuträglicher. Die Kinder entwickeln sich ja auch prächtig, lernen fleißig und die kleine Magdalene hilft Mama schon, sie soll ihren Jahren vor= aus sein. Paulas Mann, der gute Hermann, war recht leidend, hatte solche beängstigende Anfälle, so daß der Arzt für nächsten Som= mer sehr zu [roman:]Carlsbad[/roman] gerathen hat, jetzt ha= ben sie auch an der Oder viel mit dem Wasser zu thun, was ja leider in diesem Jahr arge Verwüstungen anrichtet. Alle Zeitungen sind ja voll davon, wie entsetzlich manche Gegenden gelitten, wie ganze Dörfer und Ortschaften ver= nichtet sind, daß wird noch große Noth und viel Elend im Gefolge haben. Am Freitag wird sehr der 100jährige Geburtstag der hochseligen Königin Luise gefeiert, namentlich wird in den Schulen durch Reden oder Vorträge den Gefühlen

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Ausdruck gegeben. Vor einigen Tagen hatte ich auch einen Brief aus meinem lieben Hamm, da ließen mir dann Frl. Sandkuhls sagen, daß die bewußten Andenken für Dich, glücklich bis [roman:]New-York[/roman] gekommen seien, da möchte ich nur zu sehr wünschen, daß Du sie jetzt schon im Besitz hättest, und Dich ihrer freuen könntest, wenn gleich auch wehmütige Gefühle Dich dabei beschleichen werden. Auf mein Gesuch an den Justiz-Mini= ster bin ich total abschlägig beschieden worden, da habe ich dann, mich direct an die Gnade des Kaisers gewandt, alle Verhältnisse klar gelegt, bis jetzt aber noch keine Antwort erhalten, ich kann nicht leugnen, daß ich sehr wünschte in etwa berücksicht= tigt zu werden, es [insertion:]ist[/insertion] für mich eine Lebensfrage. Ich kann ja nie genug anerkennen, wie so mehr wie gut, die Geschwister mit mir sind, aber es übersteigt doch bei weitem ihre Kräfte, mich so zu unterstützen, daß ich selbständig leben könnte, das dürfte und würde ich ja mit gutem Gewissen gar nicht annehmen können. Doch wie Gott will, wir wollen es ihm ganz anheim stellen, die gute Mutter hat mir zu oft gesagt: Er wird auch Wege finden, wo dein Fuß gehen kann‒ Und nun, mein lieber Wilhelm, möchte ich Dir noch recht liebevolle Grüße des ganzen Westarpschen +

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Hauses überbringen, und wie wir alle dem fernen Onkel nur Gutes und Erfreuliches wünschen. -
Gieb recht bald wieder gute Kunde von Dir, und beseele auch ferner lieb deine treue Schwester Emilie