Sammlung: Geschwind Papers

Verfasser: Leopold Haase

Empfänger: Charles Haase

Bezeichnung: Brief von Leopold Haase in Reval an seinen Cousin Charles Haase in Richmond, Virginia. Dieser Brief wurde am 9. Juni nach dem julianischen Kalender und am 22. Juni nach dem gregorianischen Kalender geschrieben, daher die doppelten Datumsangaben.

Leopold Haase an Charles Haase, 22. June 1904

Englischer Text

Original text

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Reval, d. 9/22 Juni 1904.

Lieber Charles!

Um wieder ein Lebenszeichen von mir zu geben, greife ich zur Feder. Ich hoffe daß Du und alle die lieben Deinen in bester Gesundheit lebt und munter seit. Jetzt wohnst du gewiß schon im neuen Hause, welches gewiß bequem und nach Bedarf und Wunsch eingerichtet sein wird. Wie gern wollte ich bei Euch sein, und in Deiner Nähe weilen. Jedoch das geht nicht, aber ganz aufgegeben ist es noch nicht, daß ich nicht nochmal nach dort komme. Blieb doch noch so vieles, vieles, unbesehn! Zur Ausstellung hätte ich nicht fahren mögen, da ich keine Freund von so großem Truwel bin. Wer ist den von Euch hingefahren? Herr Beckh wollte ja fahren, hat er es gethan? Wer ist sonst hingefahren? Großartig muß es ja sein! Davon bin ich ja überzeugt. Ich selbst, bleibe diesen Sommer zuhause. Meine Frau ist seid 2 Wochen Deutschland. In der Nähe von Stuttgart [strikethrough:] au [/strikethrough] in einem Sanatorium und ihre zerrütteten Nerven zu kurieren. Auch bin sehr nervös, ich weis nicht, ob ihr es an mir bemerkt

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habt, wie sehr nervös und aufgeregt ich zuweilen bin. Das komt nur von dem zuvielen Arbeiten vor Jahren schon. Das komt einem alles nach. Sonst geht es mir ja leidlich gut. Dich Gottlob keine Nahrungssorgen habe. Aber geschafft und gespaart muß doch tüchtig werden, damit man wieder Geld zum Ausgeben für eine schöne Reise hat. Ich habe auch angefangen meine Amerik=Reise zu beschreiben, aber es geht nicht mehr sio wie früher, die Nerven, die verflicksten Nerven, die plagen mich zu sehr, und verwirren mir den Kopf und machen mich vorschnell müde. Die Geschäftszeiten sind augenblicklich hier keine glänzenden, wie es ja auch des Krieges wegen auch nicht anders sein kann. Jedoch könnnen wir immer noch auskommen, so arm ist Rußland nicht! Hier komt noch Geld genug zusammen, und wenn Geld nöthig ist, wird es auch da sein! - Wenn nur der Kriegsschauhplatz nicht so fürchterlich weit von uns wäre, dan würde alles schon ganz anders gehen, aber ... Es wird auch so schon noch anders, und für uns besser kommen. Wir hoffen immer noch das Beste, und lassen noch lange den Muth nicht sinken. Was macht das liebe Mamachen? und die jungen Damen des Hauses? -

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Was machen die anderen alle? Oh', ich denke oft an Euch und bin öfter in Richmond mitten unter Euch, als ihr glaubt. Sonst geht es mir gut, und wie gesagt, zu schaffen und zu thun giebts ja immer genug. Meine Schwägerin ist auch auf ein paar Wochen nach Dorpat zu einer Freundin zu Besuch gefahren, so, daß ich sozusagen, allein der Hahn im Korbe bin. Auch von einer Trauernachricht muß ich Dir berichten, Mein Bruder Karl in Lübeck von dem ich Dir erzählte, ist nach langer Quälerei, plötzlich umgefallen und auf den Ruck, an einem Herz= oder Lungenschlage gestorben. Es ist etwa 2 Monate her, derselbe etwa 10 Jahre jünger als ich. Da ich nun noch ein junger Mann bin, kannst Du Dir leicht vorstellen, "wie" jung der noch war. - Na' Gott habe ihn selig, er hat Ruhe und Frieden. In den letzten Jahren hatte er es recht schwer, und hat er sich geplackt genug. Seine beiden Söhne, der eine ist Conditor, Gehülfe, und der andere ist Buchdrucker und Schriftsetzer-Gehülfe, sind in Leipzig. Die [?] condidionieren [/?] dort. Meine Frau hat sie in voriger Woche aufgesucht. Und heute schrieb mir dieselbe, der jüngere soll schwächlich und kränklich sein. Der Conditor aber, soll ein vierschrötiger sehr netter und höchst angenehmer Mensch sein.

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werden die armen Bengel sich gefreut haben, wenn sie ein paar Tage mit der Tante aus Rußland, haben gute Tage leben können. -

Hier ist in diesem Jahre ein außerordentlich kalter Frühling, wir sind um ein paar Wochen zurück. Heute ist bei uns nach dem Kalender Sommer Anfang. Aber wir sind noch nicht einmal zum richtigen Frühling gekommen. Die Obstbäume entfalten sich soeben erst richtig zur Blüthe. Die Sonne geht jetzt kurz vor 10 Uhr Abends unter, und geht gleich nach 2 Uhr Nachts schon wieder auf. So, daß unsere Nächte nur Dämmerung sind. - Oh'! Daß ist eine herrliche Zeit, unsere sogenanten "weißen Nächte". - "Wie" poesievoll solche Nächte sind, daß weis nur der, der sie durchlebt. Die Natur ist wie in Zauber gehüllt, und "unsere" Natur ist eigenartig, saftig, frisch und schön! - Wetterfest und für den langen Winter erstarkt, zeigt sich auch hier, die Natur. Nun mags genug sein für heute, bleibe recht gesund und munter, und grüße Dein gutes liebes Mamachen recht herzlich von mir.

Außerdem grüße Alle, Alle! Die sich meiner gern erinnern, und sei Du noch tausendmal extra gegrüßt:

Von Deinem

Leopold

P.S.

Gieb der ganz kleine "Lady" Beckh, in meinem Namen einen Kuß! Mit dem Wunsche, das Gott sie behüten möge. -

[envelope, verso]

[Russian:] Leopold Haase, Reval [/Russian]

Leopold Haase, Reval

Herrn

Charles Haase

Richmond, V.A.

East Broad Str. No. 207

Amerika

[envelope, recto]

Inliegend:

Einige natürliche Blümelein