Sammlung: Geschwind Papers

Verfasser: Leopold Haase

Empfänger: Charles Haase

Bezeichnung: Brief von Leopold Haase, einem Pelzhändler in Reval, Russland (heute Tallinn, Estland), an seinen Cousin Charles Haase, einen in Richmond, Virginia, lebenden Kürschner, geschrieben im Herbst 1906. Der Brief wurde am 4. Oktober nach dem in Reval verwendeten julianischen Kalender, aber am 17. Oktober nach dem in den Vereinigten Staaten verwendeten gregorianischen Kalender verfasst.

Leopold Haase an Charles Haase, 17. Oktober 1906

Englischer Text

Original text

Reval, d. 4/17 Octbr 06

Mein lieber lieber Charles!

I du mein Gott! Der Russe lebt wirklich noch? So wirst Du wohl denken wenn Du diesen meinen Brief empfängst. Ja, Ja, mein alter Charles, ich bin noch da! - Aber viel, sehr viel habe ich seit meines letzten Schreibens durchgemacht. (Von den flüchtigen Postkarten will ich nicht reden) Nachdem ich mich schon Jahr und Tag mit Müdigkeit und Mattigkeit abgeplagt hatte, kam die schreckliche Zeit unserer revolutionären Unruhen, und ich ging immer mehr zu Grunde. Alle Schaffens= und Lebenslust nahm bei mir ab, und ich war ein recht unzufriedener Mensch geworden. Ein altes Ohrenleiden war auch schlimmer geworden, mein Gedächtniß wurde schlechter, [strikethrough:] außdem [/strikethrough] außerdem litt ich an einer förmlichen Schlafsucht, wo ich mich hinsetzte konnte ich schlafen. Und alles alles wurde auf die, durch die schrecklichen Zeiten zerütteten Nerven geschrieben. So gings bis zum Frühjahr. - Es war Anfang Juni, da entschloß ich mich schnell, nahm meine Frau mit, und reiste nach Berlin um mich etwas auszulüften und meinen Menschen zu zersträuen. Ich wollte nun auch meine Ohren kurieren, und suchte in Berlin einen der ersten Ohrenärtzte Professo Passoff auf. Als derselbe mich ansah, sagte er mir: Kommen sie bitte morgen wieder und bringen sie die Analyse von ihrem Harn mit. Welche sie da und da in meinem Namen machen lassen wollen. Ich erhielt die Analyse in einem geschloßenen Couvert welches an ihn adressiert war, und <illegible> dieselbe am anderen morgen ihm zu. - Wie war

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ich aber erschreckt, als der Professor mir sagte: "Daß habe ich Ihnen schon gestern an den Augen abgesehen, daß sie "stark" zuckerkrank sind. Sie haben 5 7/10% sagte er, daß ist viel!" Ich bin Ohrenartzt, fügte er hinzu, ich bin darin Spezialist, kan aber ihre Ohren nicht früher in Behandlung nehmen, bevor sie die Zuckerkrankheit haben behandeln lassen, da die erstere möglicherweise durch die letztere entstand. Ich war wie vom Donner getroffen, denn an manches hatte ich gedacht, aber nicht daran, daß ich ein Zuckerfabrikant sei. Der Professor empfahl mir einen anderen Professor (Kraus) zu dem ich dann ging, derselbe machte selber nochmal eine Analyse und sagte: ich solle schnellmöglichst nach Karls'bad fahren, und mich daselbst an einen ihm sehr wohlbekannten Professor Kolisch wenden. Und so ging es den auch. Alle meine Pläne welche ich mit meiner Frau gemeinsam, so sorgfältig, geschmiedet hatte, sie gingen floeten! Und schnell wurden neue gezimmert. Meine Frau fuhr nach Herrenalb, ein herrlicher Luftkurort im Schwarzwalde, wo sie schon oefter war, und ich, ging nach Karls'bad mit meiner Zuckerfabrik. Daselbst wurde mir sehr strenge vorgeschriebene Diät verordnet, welche zumeist aus Eier und Schinken, oder aus Schinken mit Eier bestand. Brod durfte ich nur nach Vorschrift, und auch nur Fragemental genießen. Außerdem: Wasser und nochmals Wasser! heiße Quelle und kalte Mineralwässer. Sonst nichts. Aber siehe da! Nach einer Woche war, selbst zum Staunen des mich behandelnden Artztes, mein Zucker gänzlich verschwunden. Natürlich war ich froh, und wollte gleich von

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von Karlsbad losflitzen, aber: so schnell schießen die Preußen auch nicht! sagte mir der Docktor, sie wollen doch haben daß der Zucker nicht wiederkommt, - daher bleiben sie nur noch einige Wochen hier! Trinken noch tüchtig Wasser, pflegen die Diät, und: so wird ihr ganzer Koerper reconstruiert! aufgefrischt, jung gemacht! - Gesagt, gethan! Da nun wohl mein Zucker verschwunden war, meine Ohren jedoch weiterkrankten, versuchte ich es, in Karlsbad, zwei Fliegen mit einer Klappe zu treffen. Ich ließ gleichzeitig von den besten beläumteten Ohrenartzte in Karlsbad, meine Ohren behandeln. fast jeden Tag wurde mit dem Nasen=Kadeder, von der Nase zum Gehoergange gewirtschaftet, mein Rachen gebeizt, und der Kanal von der Nase zum Ohr, mit Watten=Tampons am langen Drathe, wie ein Lampenzylinder geputzt und gereinigt. Und dieses ging so etwa 4 Wochen lang. Na ich kan dir sagen ... "schoen" ist anders! Wie meine Koerperbeschaffenheit dabei wurde, kanst du dir denken, wenn ich dir sage: daß ich vordem Halskragen von 45 Centimeter benutzte, dan auf 44, und schließlich auf 43 übergehen mußte, welche mir auch noch zu weit waren. - Da ich mich in meinen Kleidern schähmte, mußte ich mir 2 Anzüge machen lassen. - Wenn nicht auch eine physische Ermattung gleichzeitig erfolgt wäre, war ich mit der Springinsfeld Erscheinung sehr zufrieden, war es doch leicht und bequemer so. - Ich war im ganzen in Karlsbad recht apatisch, und nahm an den großen Leben und Treiben daselbst nur so viel Antheil, wie man solches nur der Wissenschaft halber gewoehnlich thut.

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Das Bad liegt ja herrlich, im Berge umsäumten sich lang hinstreckenden Thal, der Verkehr war ein enormer! besonders in der Hochsaison, in welcher ich ja grade dort war. Es sollen 60,000 Badegäste da gewesen sein, im Laufe des Sommers, und mehr als noch einmal so viel Touristen u. Besucher. Was man da aber auch für einen Reichthum bei der bittern Armuth, unter den Menschen sah, das spottet jeder Beschreibung. Besonders viel arme polnische Juden. Dagegen wieder ein Protzenthum von gemästeten Judenweibern, ... die ihre Fleischesfülle Brillantenbedeckt zur Schau trugen - - daß es auf die Nichtliebhaber solcher Reize, scheußlich wirkte. - Alle Nationen der Welt sah man hier, Alte Narre mit ausgestopften Waden, den Bergfex und den [?] Giegerl [/?] spielend, Affen in Menschengestalt unter Trampeltieren. Den dickwanstigen dicken Pater mit Muckergesicht, welcher seine Fülle wechspülen will, und den jüdischen Schnorrer, der gerannt kommt, als ob er eine Auktion hätte, der alles Umrennt und wie gierig zum Trinkbrunnen eilt. - Ich ging schon um 3/4 6 Uhr früh', schon meine ersten 3 Gläser trinken, ich mängte mich unter das arme Volk, weil mir solches, der Typen wegen gefällt, ich stelle gern meine Betrachtungen an, und habe viele sehr viele solcher gemacht und mich bald so, und bald so, unterhalten. Es ist lehrreich, solches zu thun! - Der Gegensatz erschien einige Stunden späther, und die Creme vom ganzen - - die trank überhaupt kein Wasser am Brunnen, ließ sich solches nur hohlen, oder - - trank nur Champagner! Oh' dieser Korso! Abends von 8 - 9 Uhr! Man hat zweifache elektrische Helle geschaffen

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welche die grüne Wiese, den Haupttummelplatz der Vornehmsten, erhellt. Ein theil der Bogenlampen spendet röthliches und der andere hellgelbes fast weißes Licht. Der Effect ist packend besonders da die Beleuchtung sich amphitheatralisch bis in die Bergeshöhen links und rechts aus dem Thale erstreckt und zerstreut. Wald und Hoehen erscheinen Märchenhaft und Zauberschoen. [strikethrough:] Wenn [/strikethrough] Mit zunehmender Dunkelheit, verschwinden des Bildes Konturen, und wie an den Himmel geheftet erscheinen die mächtigen Lichter auf Bergeshoehn. Ich dachte manchesmal an den Broadwai in New-York, der an gewissen Stellen des Abendens, einen gewaltigen Carnavall treiben gleicht, wo die Reklame in Flammen an den Wolkenkratzern hoch oben erscheinen, als ob sie an den dunkeln Himmel geheftet wären. Auch in Constantinopel habe ich während des Ramasan's,- wo von einem Minareh' zum Anderen, mit Lichterschmuck behängte Schnüre gezogen werden, solche wie am Firmament angebracht erblickt. - Aber nun nach Karlsbad zurück. ... Der Korso selbst jedoch, ist ein eigenartig wunderbares Bild. Was hier für eine raffinierte Verschwendung getrieben wird, daß ist bewundernswerth. Die unsagbar vielen Brillanten und andere Edelsteine machen in der zweifarbigen Beleuchtung welche fast magisch wirkt, einen Glanz und Lichterflimmer=Spektakel

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von [strikethrough] höchste [/strikethrough] höchster Pracht. Wenn man im stillen vergleiche mit dem Elend des Morgens um 6 Uhr zieht, dann könnte man entsprechend sozialistisch empfinden, wenn nicht im Betracht zu ziehen wäre, wie viele viele Menschen grade durch den Luxus ihr Brod erwerben. Oh' dieser Zuschnitt unserer Zeit, - mit seiner überhasteten Überkultur, - wo führt er uns noch hin? [insertion: intended inversion of word order indicated, to read "Werden wir":] Wir werden [/insertion] berechtigte Ansprüche, durch die Überkultur heraufbeschworen, - immer befriedigen können? - Genug von der grünen Wiese in Karlsbad, ich empfand auf ihr und in ihrem Treiben, [strikethrough] zu [/strikethrough] zuweilen Bitterkeit mit Wehmuth getränkt und ging späther um das nothwendige Übel im großen Bogen, auf anderem Pfade herum. Viel, sehr viel wüßte ich noch über meine 5 Wochen in Karlsbad zu schreiben, aber es soll genug sein, nur erwähnen will ich noch, daß ich die schöne Umgebung weit und breit durchlaufen bin, und auch einen Abstecher nach dem schönen Marienbade machte Ich habe die hier so großartigen Porzelan und Glasfabriken besucht, vieles neue geschauht und gelernt, auch in Gißhübel wo der berühmte Sauerbrunnen herkomt bin ich gewesen und habe das köstliche Naß, Direkt von der

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Quelle getrunken. Leider war das Wetter, obgleich sehr warm zuweilen, doch nicht immer sonnig und klar, aber dennoch habe ich meinen photographischen Aparat (dort gekauften Kodak) recht oft benutzt. Wovon ich nächstens Beweise senden werde, die ich unserem lieben Beckh schuldig bin, da ich von Ihm so viele solcher erhielt. Mein Zucker bleib fort, Rachen und Ohren wurden besser, wenn auch nicht ganz gesund gemacht, da die Krankheit zu chronisch war, und so verließ ich Karlsbad, im Geldbeutel und am Körper erleichtert (etwa [strikethrough] 25 [/strikethrough] 15 Kilo) fix und leicht! Ich wog in voller Spaziergangsbekleidung 79 - 80 Kilo und habe früher 96 gewogen Es war herbstlich geworden, die Universität in München war geschlossen, und so traf ich mit Frau und Sohn in Sandersleben zusammen. Mein Sohn war von München nach Herrenalb zu seiner Mutter gefahren, hat sich dort nach einigen Tagen, vom studieren Münchner Biertrinken erhohlt, und dan kamen sie beide nach der lieben Vaterstadt, wo ich sie schon empfing. Ich hatte im Gasthof zum Bär Quartier gemacht, und so wollte ich dann in Sanderslebens Stille und Frieden gewürzt und erquickt von schönen Jugenderinnerungen, die sogenante Nachkur von Karlsbad halten

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und etwa 2 Wochen daselbst verweilen. Mein Jugendfreund Schleußner, welcher seine Tischlerei und Möbel-Magazin seinem Sohn übergeben hat, war mir treuer lieber Genosse, und so habe ich den meinem Sohne alle die liebe in der Erinnerung lebenden Tummelplätze und sonst liebe und werthen Dinge gezeigt. Leider hat es auch hier grade zu oft geregnet. Wir waren auf dem Schießberge um Caffe zu trinken, haben von da den schönen Blick genossen, der unsere kleine liebe Vaterstadt wunderbar schön im Wipperthalkessel liegen läßt, und weitere andere schöne Punkte haben wir aufgesucht bei deren Anblick das Herz sich, wie in den Kinderjahren gefreut. Besondere Freude war es mir, meinem Sohn alle die unbedeutenden Herrlichkeiten zeigen, und erklären zu können, wo und wie ich so schön meine Kindheit verlebt, - Leider fand ich auch so manches verändert, und vieles romantische welches der menschlichen Habsucht zum Opfer gefallen, vermisste ich leider ganz, die schönen Wiesen [strikethrough, one word] vor dem Frekleber Holz, wo wir jährlich zu Ostern, unsere gefärbten Osterei'er vom Hügel im Wettbewerbe herunterkullern ließen; Und da wo wir, große Menschen und Kinder uns tummelten

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Ball geschlagen und mit der Armbrust (dem Flitzebogen) geschlagen und gestoßen haben. Alle die in der Blüthezeit der Wiesen, von tausenden und abertausenden der schönsten Falter umgaukelten Plätze [strikethrough] und [/strikethrough] Raine und Anger, alles alles ist dahin! - Zuckerrüben wachsen jetzt überall. - Kleine Wäldchen und Haine, sie sind verschwunden, Zuckerrüben und Zuckerrüben, doch sie haben für mich kein Interesse obgleich ich selber noch vor Kurzem er war .... Ein Zuckerfabrikant! Der schöne Weg an der sich in den herrlichsten Windungen, durch die Auen schlängelnden Wipper, bis nach Frekleben [heute Freckleben] entlang, [strikethrough] die so [/strikethrough] er ist fort. Obwohl die Wipper noch dicht mit herrlichen Ristern (Ulmen) und Weidenbäumen und Gestrüpp wunderbar Schattig, wie im Laubengange besäumt, der Weg ist fort, auf ihm wachsen Zuckerrüben! - Und so geht es weiter fort. Auf dem Tepps [heute Teps] stehen Häuser und Häuser ohne Zahl. Auch ein katholisches Kirchlein steht auf dem Tepps, so viel Katholiken sind jetzt durch die vielen Fabrikarbeiter nach Sandersleben gekommen. - Während ich mich aus meiner Kindheit erinnern kann, daß nur 2 katholische Familien

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Ein Scheerenschleifer und Siebmacher Münzel, und ein Leinenweber dessen Namen ich vergessen habe, in der ganzen Stadt exestierten. - Welche wegen aller kirchlichen Handlungen ihres Rietußes, nach Aschersleben mußten. - Unsere schöne protestantische Kirche, mit dem schönen edelen [strikethrough:] gothisch [/strikethrough] hohen spitzen Thurm, in welchem der Thurmwächter wohnt, den wir Jungen so oft und gern besuchten, nur weil er so sehr hoch wohnte, und dem wir so manchen Schabernack gespielt haben. - Sie ist von innen umgeändert, die herum laufende Gallerie, welche mit dem Chor von dem wir als Jungens mit frommer Inbrunst, oder auch nicht - die hellen Kinderstimmen, bis zum [?] herähen [/?] Baß erklingen ließen wen Kirche war. Diese Gallerie mit den Rathstühlen, den erbrechtlichen Stühlen und Sitzen der alten Vollblut-Sandersleber, wo auch derjenige meines seligen Vaters war, - - alle sind fort! - Kahle hohe Wände sind da. Man hat verbessern, modernisieren wollen, und hat das Traute, anheimelnde, behagliche genommen. Die alten geschnitzten Gallerien und Stühle sind fort. - Ich hätte weinen mögen. Schmucklos ärmlich, wie ich die

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die trapisten Kirche zu den drei Fontainen bei Rom sah', so ist's geworden. - Die Kirche fast jetzt weniger Andächtige als früher. - Und diese Plätze waren nur schwach besetzt, während früher am Sonntag alle besetzt waren. - Die alten Linden hinter der Kirche sind noch wie einst. Oh' wie herrlich haben wir unter ihrem Schatten gespielt, oder ... das Fell durchgegerbt! Oh' wie war daß schön! wenn auch einmal ein Fetzen aus der Jacke gerissen wurde, und der Stock des guten Vaters als die heilsame Entschädigung kam. - Der alte Judentempel ist in seinen Mauern noch so durchfurcht und durchlöchert , die aus den Löchern herunterhängenden Halme und herausschauhenden Federn, bekunden, daß die Sperlinge wie einst, hier noch ihre Nester bauen und ein großes geselliges Familienleben führen. Welches wir Jungens so manches mal, wenn der Sperlingsvater im Dunkel des Abends [strikethrough:] an der [/strikethrough] an dem Busen der Sperlingsmutter träumte, störten, wenn wir mit der langen Leiter kamen, auf welcher wir zu ihnen emporstiegen. - Unsere alte gute Schule, in der die Grundsteine zum Bauwerke unseres Wissens, so schlicht und einfach, aber

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für den praktischen Sinn so ersprießlich gelegt worden sind. - Wo wir mehr Gesangbuchsverse als sonst was - lernten, sie steht noch da wie einst. Nur zwischen ihr und der Kirche seht eine stattliche Eiche welche ein Kriegerdenkmal beschattet. - Kneipen und Tanzlokale gibt es mehr als einst. - Aber sonst ist es dennoch heimisch und lieb. Mündlich würde ich dir noch viel mehr erzählen können, Aber, da ich etwas umschweifend zu schreiben liebe, mag es mit dieser Beschreibung genug sein. Weiß ich es doch, daß Dir auch dieser, mein kleiner Bericht über unser kleines schönes Vaterstädtchen die köstlichsten Erinnerungen erweckt. - Ich sehe dich im Geiste, sehe, wie dein liebes Gesicht sich klärt, Leopold Haasen haben wir auch besucht. Wir haben [strikethrough, one word] sogar, 3 Mann hoch, eine Nacht bei ihm logiert. Er ist ein guter Kerl, und immer der Alte. Seine Frau war zu Besuch und zur Erhohlung bei Ihrem Bruder, welcher die Wartburg bei Eisenach in Pacht hat. Derselbe soll ein sehr sehr reicher Mann sein, die Tochter von meinem verstorbenen Bruder Herrmann welche in Magdeburg lebt und eine gute Anstellung daselbst hat,

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kam extra nach Sandersleben um uns alle zu sehen. Sie ist ein hübsches schlankes Mädchen. Mit einem richtigen Gesicht der Haasen. - Meinen Neffen Paul, Sohn meines verstorbenen Bruders Karl, habe ich in Leipzig auch aufgesucht. Er ist ein braver ordentlicher Mensch. Er ist Conditor und war ein Jahr hier in Reval. Er hat sich mit einem braven Mädchen verlobt, und möchte gern selbständig werden, wozu ich ihm meine Unterstützung zugesagt habe. - Lieber Gott, es glückt nicht jedem Menschen. Meiner Geschwister Kinder sind alle ärmliche Leute, Ich muß oft helfen, und helfe auch gern, wenn sie nicht [underline:] zu oft [/underline] kommen, und sie dabei ordentlich sind. - So war mir den die Zeit in Sandersleben, eine rechte Freude. Da kam plötzlich eine Nachricht aus Reval die alles zerstörte und mich veranlaßte sofort nach Reval zu reisen. Statt 14 Tage war ich nur 5 Tage in Sandersleben geblieben. Man Depeschierte mir nämlich, das meine Schwägerin, welche bei uns alles verwaltete, sehr lebensgefährlich erkrankt sei. Und sofort brachen wir auf, nach Berlin. [strikethrough, one word] Ich konnte es mir aber doch nicht erlassen

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den Weg von Sandersleben bis Berlin, auf dem Umwege über Hildesheim zu nehmen. Weil ich meinem Sohne und meiner Frau, den alten Ursitz unser Familie (wie du es ja weißt) Hildesheim zeigen wollte. - Andern Tages waren wir den auch in Hildesheim in der Wollweberstr. und standen staunend vor dem Hause in dem unser alte Ahnherr der weiland Stadthauptmann von Hildesheim, gewohnt hatte. Erinnerung und Empfindung hoben mir die Brust und freudig erregt zeigte ich [strikethrough:] ihnen [/strikethrough] den Meinigen wunderbar schön im Gewande des Alterthums prangende Stadt. Wir blieben einen Tag, und eine Nacht in Hildesheim, und reisten dan nach Berlin, wo ich Einkaufshalber 2 Tage zu thun hatte. Inzwischen blieb der Depeschenwechsel mit mir und Reval im Gange, und lauteten die Nachrichten immer schlechter, zuletzt schon hoffnungslos. Solches wirkte sehr nachtheilig auf meinen so sehr verbrauchten Körperzustand, und habe ich dadurch sehr gelitten. Da war aber nichts zu machen, mit dem nächsten Dampfschiff reisten wir drei von Lübeck nach Reval Direct. Wo wir nach einer zweitägigen Fahrt, dan eingetroffen sind.

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Ich war sehr heruntergekommen, so daß sich alle welche mich erblickten, sehr entsetzten. Meine Schwägerin hatte man in das Hospital gebracht, weil eine Lebensgefährliche Opperation an ihr vollzogen worden war. Das Leben derselben war in größter Gefahr. - Darüber sind nun schon wieder etwa 6 Wochen vergangen, Meine Schwägerin ist nicht gestorben, obgleich wir sich noch bis heute im Hospital gelassen haben, so ist sie doch schon fast gesund, und die große Opperationswunde fast verheilt. Ich habe mich auch wieder herausgehaspelt, und bin seit letzter Zeit auch schon wieder ziemlich fix. Ich habe viel angesammelte Arbeit vorgefunden, war auch sehr matt und abgespant. Deßhalb habe ich auch keinen Menschen mit welchen ich in briefwechsel stehe eine Zeile geschrieben. So, nun weißt du auch den Grund meines langen Schweigens. Erzähle dieses allen den lieben Deinigen, den Familien Henry, Willy u John Haase, Herrn Beckh, Miller's' nebst Familien, Hell'n u Lessy, nicht zu vergessen, Und Deinem lieben Sohne Charles' nebst Familie, mache ich durch dies, meine herzlichste Empfehlung. Dir und Mama'chen noch einen besonders herzlichen Gruß! wie immer Dein Leopold.

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Mein Sohn Eckart war bis vorigen Sonnabend hier, und ist an diesem Tage per Schiff nach Deutschland gefahren um seine juristischen Studien weiter zu treiben. Er ist ein netter, feiner, doch vornehm bescheidener Mensch. Wenn er so bleibt, dan bin ich mit ihm zufrieden. Mein Petersburger Sohn, hat die Absicht sich nochmal zu verheirathen. Welches ich auch ganz in der Ordnung finde, da er ein gut gehendes Geschäft hat, und eine Frau ernähren kann. Über die politischen Ungeheuerlichkeiten will ich schweigen, da dieselben zu unerquicklich sind. - Es ist ja eine bekante Thatsache, daß ein Mensch, wenn er längere Zeit in einem Sumpfe steht, er sich mit der Zeit an dessen Gestank gewöhnt. Man gewöhnt sich eben an alles, auch an die Werthlosigkeit von Menschenleben, wie alle Perioden der Schreckenszeiten, sie stets gebracht haben. Wenn ich mal ein Kontrefei von Deinem Charles' bekäme, daß würde mich jetzt erfreuen. Wie gehts den Deinem John im Ehestande? Hat er sich so verheirathet wie Du es gern gesehen hast? -